Iran, die Bürgerrechtsbewegung und der Westen: Zehn Thesen - Dr. Ali Fathollah-Nejad • Official Website
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Iran, die Bürgerrechtsbewegung und der Westen: Zehn Thesen

Dies ist der leicht aktualisierte Vortragstext für die Veranstaltung „What Lies Ahead? The Movement, Sanctions and the West“ der britischen Friedensbewegung in London am 3. Februar 2010. Die darin präsentierten Thesen versuchen die Aussichten auf Demokratie in Iran in einem analytisch größeren Rahmen zu fassen.

Der Text erschien zuerst in: FriedensForum: Zeitschrift der Friedensbewegung, Nr. 2/2013 (März 2013), S. 31–33.


Vorbemerkung

Die folgenden Thesen entstanden Anfang 2010 unter dem Eindruck der Mobilisierungen der Grünen Bewegung. Seitdem ist die Schwächung eben jener zu konstatieren, die zum einen der staatlichen Repression und zum anderen ihrem programmatischen Defizit, die Frage der sozialen Gerechtigkeit ausgeblendet zu haben, geschuldet ist. Mit anderen Worten hat es die Grüne Bewegung versäumt, die Arbeiterschicht und ihre Belange personell und programmatisch einzubinden, was ein wichtiger Grund für das Ausbleiben ihres Erfolges hinsichtlich einer Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt. Zu den wichtigsten Entwicklungen der letzten drei Jahre gehört neben den „Arabischen Revolten“ die beispiellose Verschärfung des vom Westen initiierten Iran-Sanktionsregimes. Wie ich zu Jahresanfang in der FAZ schrieb, sind die Sanktionen „ein brutaler Angriff auf ein ganzes Land. Sie schwächen den hundertjährigen Kampf der Iraner um Demokratie, weil sie jene, die ihn zu führen haben, im Alltag plagen, während die Unterdrücker sich ungehindert bedienen und ausstatten können. […] Nun sind derzeit zwei Entwicklungen zu befürchten: Entweder muss eine notleidende Bevölkerung sich auf Jahre hinaus in einem durch die äußere Drohkulisse und Sanktionen gefestigten, sich in Richtung einer Militärdiktatur entwickelnden Regime um das schiere Überleben kämpfen. Oder ein Krieg wird jegliche Perspektive auf Demokratie und menschenwürdiges Leben begraben.“ Folgerichtig müsste heute die dringendste Forderung, ohne die weder die Aussicht auf Demokratie noch Frieden besteht, heißen: Schluss mit den Sanktionen!

Zehn Thesen

1.

Die sogenannte Grüne Bewegung innerhalb Irans – deren Wellen die politische Landschaft bereits im Vorlauf zu den Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 erschütterten und die im Anschluss an die offiziöse Bestätigung der sehr umstrittenen Wahlergebnisse Aufwind bekam – ist von einer äußerst diversen Natur. Auf der einen Seite umfasst sie einige der Gründerväter der Islamischen Republik, auf der anderen Seite ist sie eine auf einer breiten Basis beruhende und friedliche Masse, die aus drei sozialen Bewegungen entsprungen ist: der Studierenden, der Frauen und der Arbeiterschaft, die für die Erfüllung der Versprechen der Revolution von 1979 kämpfen.

Außerhalb Irans sammelte sich eine Zahl politischer Gruppen unter der Flagge der Grünen Bewegung. Einige drückten ihre ernstzunehmende Solidarität aus, während sie sich ihrer besonderen politischen Verantwortung im Exil bewusst waren. Andere gruben in opportunistischer Manier ihre bankrotten Slogans aus, die sich auf die Rezepte eines „Regimewechsels“ im Sinne des „New American Century“ reimen.

2.

Ihre Ziele können zusammengefasst werden als die Wiederherstellung der Bürgerrechte eines breiten Spektrums sozialer Schichten im politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Bereich. Deshalb scheint es angebracht, sie als „Bürgerrechtsbewegung“ zu bezeichnen. (Beim Kampf für sozio-ökonomische Rechte gilt hier die o.g. Einschränkung hinsichtlich des Defizits der Grünen Bewegung bei der Integration der v.a. wirtschaftlichen Belange ärmerer Schichten.)

3.

Drei ideologische Stränge zeichnen die moderne, anti-koloniale politische Kultur Irans seit Anfang des 20. Jahrhunderts aus: Nationalismus, Sozialismus und politischer Islam. Jeder von ihnen sollte die Gelegenheit bekommen, auf der Basis demokratischen Wettbewerbs seinen rechtmäßigen Platz in der politischen Landschaft Irans einzunehmen.

4.

Diese Bürgerrechtsbewegung ist die Fortsetzung des Kampfes für Freiheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit des iranischen Volkes in den letzten 100 Jahren. Es gab drei historische Momente für diese demokratischen Bestrebungen: 1.) Inmitten des kolonialen Druckes seitens Großbritanniens und Russlands wurde die Saat während der „konstitutionellen Revolution“ des frühen 20. Jahrhunderts (1906–11) gesät – in einem Volksaufstand gegen einheimischen Despotismus und seine kolonialen Hintermänner. 2.) Ein halbes Jahrhundert später (1951–53) trieb er Knospen, als das Projekt der Verstaatlichung der Ölindustrie durch den ersten demokratisch gewählten Premierminister der gesamten Region, Mohammad Mossadegh, sich gegen die Ausbeutung durch das Ausland wandte. 3.) Er blühte auf in der iranischen Revolution (1977–79), die viele Jahrhunderte monarchischer und imperialer Herrschaft über Iran hinwegschwemmte. Und 4.) sehnt sich heute das iranische Volk danach, dass die Prinzipien von Freiheit und Republikanismus verwirklicht werden.

5.

Man sollte die Geschichte imperialer Verrate an den historischen Bestrebungen der IranerInnen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, im Kopf behalten. Zumal der Erfolg jener demokratischen Momente durch koloniale und imperialistische Intervention schwer sabotiert wurde, begrüßt von den einheimischen Tyrannen: 1.) 1908 bombardierte die private, von Russen (Kossaken) geführte Armee des Schahs das neu entstandene iranische Parlament – eben jenem Ort, wo die Forderungen des Volkes nach der Machtbegrenzung des Monarchen zum Ausdruck gebracht werden sollten. Kurz danach teilte Russland gemeinsam mit Großbritannien Persien in „Einflusszonen“ auf. 2.) 1953 wurde die demokratische Regierung von Mossadegh reuelos von einem durch die USA und Großbritannien initiierten Militärputsch gestürzt und der monarchische Diktator bestieg den Pfauenthron dank der Gnaden des im Entstehen begriffenen American Empire. 3.) 1980 brach der von Washington und seine westlichen Alliierten unterstützte irakische Diktator Saddam Hussein einen kriminellen und katastrophalen Krieg gegen den fragilen nach-revolutionären Iran vom Zaun, was letztlich die Position der Hardliner in Iran stärkte und ihnen ermöglichte, die Macht zu monopolisieren, indem sie der Theokratie einen dominanten Platz in der neu entstandenen Republik sicherten. 4.) Der jüngste Fall solch imperialer Intervention ist die böswillige Verwendung der sog. “Achse des Bösen“ (mit Iran in ihrem Zentrum), die kriminellen Unternehmungen einer neokonservativen Clique in ihrem „Krieg des Terrors“, die de-facto militärische Einkreisung infolge der bewusst hergestellten „Atom-Krise“ und die nicht nachlassenden Drohungen eines Krieges gegen Iran. Dieser Belagerungszustand, in der sich Iran nach den schrecklichen Angriffen des 11. September 2001 wiederfindet, zeigte sich als das beste Rezept, das reformistische Lager Irans und ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen zu unterminieren. Bedauerlicherweise hat der sog. Westen faktisch kaum eine Gelegenheit ausgelassen, jeder sich entwickelnden Aussicht auf demokratische Souveränität nicht nur in Iran, sondern in der gesamten Region den Todeskuss zu geben.

6.

Aufgrund seiner Energievorräte und strategischen Bedeutung ist Iran über die letzten hundert Jahre im Fokus imperialer Politik gewesen: von der Gründung der Anglo-Persischen Ölgesellschaft 1909 bis hin zum „Greater Middle East“-Projekt des American Empire im 21. Jahrhundert. Ein Ende solch gefährlicher Verwicklungen ist für das iranische Volk kaum in Sicht – die Situation muss weiterhin aufmerksam beobachtet werden.

Der „Renten“-Charakter des vor- und nachrevolutionären iranischen Staates begünstigt ein monopolistisches und klientelistisches Herrschaftssystem und behindert Demokratisierungsprozesse. Obwohl solch eine polit-ökonomische Machtstruktur über erhebliche Mittel verfügt, demokratischem Wandel zu widerstehen, ist es ihm gegenüber dennoch nicht immun. (Neuere Studien weisen darauf hin, dass Iran nicht zuletzt aufgrund seiner breiten Industriebasis kein klassisches Beispiel eines Rentenstaats mehr darstellt. Die erwähnten negativen politischen Auswirkungen eines auf Renteneinnahmen angewiesenen Staates beanspruchen aber weiterhin Gültigkeit.)

7.

Auch kann Irans Rentierstaatlichkeit zu der berechtigten Beschreibung Anlass geben, die gegenwärtige Situation als einen Machtkampf  zwischen konkurrierenden Eliten [um die Pfründe des Rentenstaats] zu begreifen.

 

Nun, was sollte der Westen tun – sollte er ernsthaft eine demokratische Entwicklung in Iran unterstützen wollen?

8. Die transatlantische „Zwangsstrategie“ gegenüber Iran, wie sie richtigerweise in Diplomatischen Studien genannt wird, muss ausgesetzt werden, denn sie unterminiert alle Aussichten für Frieden und Demokratie. Sanktionen – ob „lähmend“ oder „smart“ – fügen letzten Endes der Bevölkerung Schaden zu. Wie von VertreterInnen der Zivilgesellschaft und von ÖkonomInnen betont wird, wird der Preis für die Sanktionen vom gesamten iranischen Volk entrichtet. […] „Kluge Sanktionen“ sind ebenso ein Oxymoron wie „intelligente Bomben“, welche angeblich in gezielter Manier mit „chirurgischen Schlägen“ ausschließlich die üblen Komponenten ausnehmen. Und wie ihre militaristischen Geschwister im Geiste überwiegen schließlich die „Kollateralschäden“ „smarter Sanktionen“. Diese als „klug“ zu empfinden, kann denn nur als purer Zynismus gelten. Unterdessen verbleibt ein grundsätzliches Problem mit den Sanktionen: Sie werden hauptsächlich in Washington konzipiert, wo die für die iranische Zivilgesellschaft potentiell schädlichen Folgen kaum eine Rolle spielen. […] Das Ergebnis: Sanktionen – eine Medizin, von der westliche Politikkreise besessen sind – versprechen keine Heilung, sondern wirken wie ein langsames Gift, das der Zivilgesellschaft und damit der Bürgerrechtsbewegung verabreicht wird. Als Prototyp wirtschaftlicher Kriegsführung stellen Sanktionen gemeinsam mit dem saisonal aufflammenden Ruf nach Krieg eine gefährliche Mischung dar. Jene betäubenden Kriegstrommeln schlagen wieder einmal auf das pulsierende Herz der iranischen Zivilgesellschaft.

9.

Die andere Seite derselben Medaille westlicher Iran-Strategie – nämlich das Mantra „alle Optionen sind auf dem Tisch“ – verfestigt nur den Eindruck eines unter Belagerungszustand stehenden Landes. Die Drohung mit Krieg und die in vollem Gange vorangetriebenen militärischen Vorbereitungen unterminieren nur die Bürgerrechtsbewegung und verdunkeln schamlos jede Zukunftshoffnung.

10.

Als IranerInnen und FriedensaktivistInnen im Westen muss unsere Hauptsorge sein, die lebendige iranische Zivilgesellschaft von allen Bestrebungen unserer eigenen Regierungen zu schützen, in irgendeine Form von räuberischer Einmischung zu verfallen, wie es ihre Vorgänger taten. Eng mit einer solchen Bemühung verbunden ist die Forderung nach einer Friedensordnung in der Region, indem der „Krieg des Terrors“ des Westens beendet wird, der die demokratischen Bestrebungen der Völker des Nahen und Mittleren Ostens behindert hat. Wir müssen die Einstellung jener Politik fordern, die den Hardlinern aller Seiten, die den traurigen Status-Quo endlos ausbeuten wollen, in die Hände spielt. Dies beinhaltet

  • die „Zwangsstrategie“ (einschließlich der Sanktionen) gegen Iran zu beenden;
  • keine weiteren verdeckten Operationen seitens der USA und Israels (die auch unter Obama nicht geendet haben!);
  • kein „Demokratie-Förderungs“-Geld aus dem Westen, das vielmehr die autoritären Verhältnisse befördert hat;
  • Beendigung der US-/NATO-Besatzungen im Irak und in Afghanistan und Verzicht darauf, Pakistan, Jemen und Syrien dem gleichen Schicksal zu unterwerfen.

Dies alles schlage ich vor, weil die IranerInnen in Iran selbst am Besten wissen, was zu tun ist. Ein letzter Ratschlag an die westlichen Regierungen: Haltet still und schaut zu! Und: Hebt die Sanktionen auf!

QUELLE

Ali Fathollah-Nejad (2013) “Iran, die Bürgerrechtsbewegung und der Westen: Zehn Thesen” [Iran, the Civil Rights Movement and the West: Ten Theses], FriedensForum: Zeitschrift der Friedensbewegung, Nr. 2/2013 (März), S. 31–33. [pdf]

▪ wiederveröffentlicht auf: Die Freiheitsliebe, 12. Juni | ZNet Deutschland, 13. Juni aixpaix.de: Aachener Friedensmagazin, 13. Juni | Arab Spring Collective, 1. Juli.

 

ENGLISH INFO

This article is a slightly updated version of a speech delivered by Ali Fathollah-Nejad held at a meeting organized by the UK peace movement at the Bloomsbury Baptist Church in central London in February 2010. Under the heading “What Lies Ahead? The Movement, Sanctions and the West” also Lindsey German (Stop the War Coalition) and Prof. Ali Ansari (world-renowned Iranian historian) spoke. In his speech entitled “Iran, the Civil-Rights Movement and the West”, Fathollah-Nejad presented ten theses which try to capture the prospects for democracy in Iran in a larger historical and analytical framework.